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Goldlöckchen und die Kunst der Abschreckung

  • Autorenbild: Michael Rühle
    Michael Rühle
  • 16. Okt. 2024
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Okt. 2024


»Si vis pacem para bellum« lautet ein weit verbreitetes und wohl ebenso zutreffendes Mantra der Abschreckungspolitik. Doch in der Praxis ist es schwierig, ein optimales Maß an Druck aufzubauen, ohne den Kontrahenten zu proaktiven Maßnahmen zu veranlassen. Michael Rühle, NATO-Experte a.D., stellt in diesem Beitrag die Frage nach idealen Druckpunkten der (nuklearen) Abschreckung.


Eine goldene Nuklearrakte auf einer Landkarte vor einer Stadt.
Gibt es ihn - den »Sweetspot« der Abschreckung, der die eigene Sicherheit gewährleistet, ohne zu destabilisieren?

Teaser-Bild über die generative KI von Canva Pro erstellt.



In dem Märchen »Goldlöckchen und die drei Bären« dringt das kleine blonde Mädchen in das Haus der Bärenfamilie ein, die gerade nicht daheim ist. Sie probiert den Brei aus allen drei Tellern, und isst schließlich den Brei, der nicht zu heiß und nicht zu kalt ist. Ebenso setzt sie sich auf alle drei Stühle, um den passenden zu finden, und schläft schließlich in dem bequemsten der drei Betten ein. Als das Mädchen aufwacht und die drei inzwischen heimgekehrten Bären sieht, läuft es davon.


Goldlöckchens Vorgehensweise, unter verschiedenen Optionen die »genau richtige« auszuwählen, ist als »Goldilocks principle« im angelsächsischen Raum seit langem bekannt – von der Psychologie bis zu den Wirtschaftswissenschaften. Es ist daher nicht überraschend, dass auch die Sicherheitspolitik diesen Begriff für sich entdeckt hat. Denn die Frage, wie man im Umgang mit gegnerischen Mächten den »genau richtigen« Druckpunkt findet, der sie von einem Waffengang abschreckt, ohne dadurch eine verhängnisvolle Eskalationsspirale in Gang zu setzen, bewegt nicht erst seit Russlands Angriff auf die Ukraine die Gemüter. Auch der Aufstieg eines sich zunehmend aggressiv gebärdenden China stellt die westliche Politik vor die Herausforderung, Beijing im Falle einer Aggression inakzeptabel hohe Kosten anzudrohen, ohne selbst das Opfer chinesischer Vergeltung zu werden.


Doch existieren solche Druckpunkte überhaupt? Die RAND Corporation, ein einflussreicher amerikanischer Think-Tank, hat anhand historischer Fallstudien herauszufinden versucht, ob es tatsächlich einen »Goldlöckchen«-Bereich von Druckpunkten gibt, mit denen sich die Entscheidungen eines nuklear bewaffneten Gegners beeinflussen lassen, ohne damit eine unkontrollierbare Eskalation auszulösen. Das Ergebnis ist wenig ermutigend.


In der Kubakrise 1962 operierten sowohl Washington als auch Moskau mit zahlreichen Annahmen über die Absichten und Fähigkeiten des Gegners, die sich anschließend als falsch herausstellten. So unterschätzten die Amerikaner die Zahl und den Bereitschaftsgrad der bereits auf Kuba stationierten sowjetischen Nuklearraketen, während die Sowjets die Entschlossenheit der USA unterschätzten, eine Stationierung auf keinen Fall zuzulassen. Zahlreiche Kommunikationspannen, sowohl innerhalb der amerikanischen und sowjetischen Führung als auch zwischen Washington und Moskau, erhöhten die Wahrscheinlichkeit gefährlicher Missverständnisse.   


Sowohl Kennedy als auch Chruschtschow folgten nicht immer dem Rat ihrer militärischen Führung, weil sie eine große Auseinandersetzung vermeiden wollten. Dazu gehörte auch, das Überschreiten bereits formulierter »roter Linien« durch den Gegner zu ignorieren, um nicht von seinen eigenen Drohungen eingeholt zu werden. Auch wenn sich beide Seiten bisweilen einer martialischen Rhetorik bedienten, suchten sie nach einer Lösung, die den jeweils anderen sein Gesicht wahren ließ.


Im chinesisch-sowjetischen Grenzkonflikt von 1969 führte der Versuch Beijings, Moskau durch den Angriff auf eine russische Patrouille am umstrittenen Ussuri-Fluss zum Nachgeben zu zwingen, zu heftigen Kämpfen entlang der Grenze, in deren Verlauf sich Moskau sogar genötigt sah, seine strategischen Nuklearstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen. Da man in Beijing jedoch davon ausging, dass die sowjetischen Kerninteressen in Europa und nicht in Asien lägen, glaubte man nicht an eine Eskalation durch Moskau und lehnte zunächst sogar russische Gesprächsangebote ab.


Als im Sommer 1969 jedoch bekannt wurde, das sowjetische Emissäre in Washington die Haltung der USA im Falle eines sowjetischen Militärschlages gegen die chinesischen Nuklearstreitkräfte sondiert hatten, mobilisierte China seine Streitkräfte. Zwei nukleare Tests folgten. Selbst als sowjetisch-chinesische Gespräche endlich zustande gekommen waren, blieb das chinesische Misstrauen groß, da man sich inzwischen nicht nur in einem Kampf mit der Sowjetunion wähnte, sondern auch mit den USA. Erst als der Vorsitzende Mao überzeugt war, dass die Annäherungsofferten von Präsident Nixon an China ernst gemeint waren, entspannte sich die Lage.


Die Krise in der Straße von Taiwan, die 1995 und 1996 die amerikanisch-chinesischen Beziehungen zerrüttete, zeigt ebenfalls, wie schwierig es ist, einen nuklear bewaffneten Gegner durch Drohungen abzuschrecken, ohne ihn zu einer Überreaktion zu provozieren. Als der taiwanesische Präsident Lee ein Visum erhielt, um die USA zu besuchen, interpretierte China dies als Beleg für die – falsche – Vermutung, Washington wolle seine »Ein-China-Politik« aufgeben. Entsprechend massiv war die Reaktion. Mit Militärmanövern und Raketentests versuchte Beijing, seine Interessen zu kommunizieren und zugleich die taiwanesischen Nationalisten in die Schranken zu weisen. Amerikanische Warnungen interpretierte man als Bluff.


Erst im Frühjahr 1996, nach Monaten chinesischer Manöver in der Nähe Taiwans, entschied sich Washington für eine härtere Gangart. Man machte Beijing unmissverständlich klar, dass man im Falle eines chinesischen Angriffs auf Taiwan militärisch eingreifen werde und erhöhte seine maritime Präsenz in der Region. Als bei den taiwanesischen Wahlen im März 1996 der nationalistische Präsident Lee ein Rekordergebnis erzielte, war Chinas Politik der militärischen Drohkulisse gescheitert. Auf amerikanischen Druck hin zügelte der wiedergewählte Präsident seiner anti-chinesische Rhetorik und sagte bereits geplante Manöver wieder ab. Die Krise war vorüber.


Gibt es also einen »Goldlöckchen«-Bereich an Druckpunkten, durch die ein nuklear bewaffneter Gegner abgeschreckt werden kann, ohne ihn zu einer Eskalation zu provozieren? Die drei hier diskutierten Krisen sprechen eher dagegen. Drei Lehren aber lassen sich ableiten.


An erster Stelle steht die auch aus zahlreichen anderen Krisen gewonnene Erkenntnis, dass die Kontrahenten keine Kontrolle darüber haben, wie der jeweils andere militärische Drohungen oder konkrete Handlungen interpretiert. Selbst wenn man dem Gegner die Begründung für das eigene Handeln liefert, ist keinesfalls sicher, dass der Gegner diesen Erklärungen auch Glauben schenkt. Da der Gegner die Aussagen und Handlungen der anderen Seite in sein eigenes historisches, kulturelles oder ideologisches Koordinatensystem einordnet, kann er zu völlig anderen Schlussfolgerungen gelangen als von der anderen Seite beabsichtigt.  


Die zweite Lektion besagt, dass militärische Drohungen – auch nukleare Drohungen – einen Gegner nicht zwangsläufig dazu bewegen können, nachzugeben. Dies gilt selbst dann, wenn der Drohende über eine deutliche konventionelle und nukleare Übermacht verfügt. Militärischer Druck kann sogar dazu führen, dass sich die Haltung des schwächeren Gegners noch weiter verhärtet. Entscheidend für den Ausgang einer Krise ist daher weniger das militärische Kräfteverhältnis als die Interessenlage und Kommunikation der Kontrahenten.


Dies führt unmittelbar zur dritten Lektion, nämlich der entscheidenden Rolle der politisch und militärisch Handelnden. In allen drei hier beschriebenen Krisen waren einige der Hauptakteure bereit, bestimmte Informationen, festgelegte Entscheidungsverfahren oder sogar die von ihnen zuvor selbst gezogenen »roten Linien« zu ignorieren, um nicht auf eine Eskalationsautomatik festgelegt zu werden. Trotz Störfeuer aus den eigenen Reihen – vor allem von den »Hardlinern« im sowjetischen Politbüro wie auch im amerikanischen Kongress – versuchten sie, die eigenen nationalen Kerninteressen zu schützen, zugleich aber der anderen Seite zu signalisieren, dass man nicht bis zum Äußersten gehen wolle.


Das Fazit? Angesichts der Dynamik von Krisen gibt es vermutlich keinen idealen »Goldlöckchen«-Druckpunkt. Denn wenn sich im Laufe einer Krise die Bedrohung ändert oder die potenziellen Kosten eines bestimmten Kurses deutlicher werden, ändern sich auch die Interessen, die auf dem Spiel stehen. Wichtiger als die Suche nach der »genau richtigen« Abschreckungsformel ist daher eine politische und militärische Führung, die ein genuines Interesse an der Lösung der Krise hat, die nicht von ideologischem Dogmatismus oder Rachegefühlen getrieben wird, und die einen Kompromiss nicht reflexhaft als Schwäche deutet. Selbst eine solche ideale Kombination garantiert noch keinen Erfolg. Doch die Geschichte von Goldlöckchen hat schließlich auch kein richtiges Happy End.




NATO-Experte a.D. Michael Rühle

Zum Autor:


Michael Rühle

NATO-Experte a.D.


Michael Rühle war über dreißig Jahre lang im Internationalen Stab der NATO tätig, u.a. im Bereich Politische Planung und Reden, Energie- und Klimasicherheit sowie hybride Bedrohungen.

2009 erschien in der Edition Körber-Stiftung seine Publikation Gute und schlechte Atombomben. Berlin muss die nukleare Realität mitgestalten.


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