Vom Scheitern militärischer Barrieren – Lektionen aus dem Vietnamkrieg
- Michael Rühle

- 22. Apr. 2024
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Okt. 2024
Es ist mehr als ein halbes Jahr vergangen, seit Terroristen der Hamas die Grenze zu Israel überschritten und dort mehr als 1.200 Menschen brutal ermordeten. Dabei überwanden sie die Befestigungsanlagen mit einer Leichtigkeit, die nicht nur die Sicherheitskräfte in Israel überraschte. Michael Rühle, NATO-Experte a.D., zieht in diesem Beitrag historische Parallelen.

Am 07. Oktober 2023 verübten in Israel Terroristen der Hamas eines der schrecklichsten Blutbäder in der jüngeren Geschichte. Über 1200 Menschen wurden auf teils grausamste Weise getötet. Der Nahe Osten wird noch lange unter den Folgen dieses Massakers zu leiden haben.
Die schnelle Überwindung der israelischen Befestigungen entlang des Gazastreifens durch die Terroristen der Hamas hatte nicht nur das israelische Militär überrascht. Weltweit fragten sich Beobachter, wie es den Angreifern gelingen konnte, eine derart ausgeklügelte Barriere zu durchbrechen. Immerhin war die »Eiserne Wand« mit Stacheldraht, Kameras und Sensoren bestückt. Sie ruhte auf einem Betonsockel, um ein Untertunneln zu verhindern. Und sie war mit ferngesteuerten Maschinengewehren versehen, um Angreifer auch aktiv bekämpfen zu können.
Dennoch gelang es der Hamas, mit Drohnenangriffen zahlreiche Wachttürme, Kommunikationsanlagen und ferngesteuerte Maschinengewehre entlang der Barriere auszuschalten. Scharfschützen setzten zudem die Sicherheitskameras außer Gefecht. Mit Bulldozern schlug man Schneisen in den zwei Meter hohen Doppelzaun. Die Gegenwehr war gering. Weil die militärische Führung Israels im Vertrauen auf die »Eiserne Wand« keine Notwendigkeit für die physische Bewachung der Grenzanlagen sah, waren nur wenige israelische Soldaten vor Ort. Und plötzlich war der scheinbar undurchdringliche Schutzwall Geschichte.
Dass eine technologisch aufwändige Barriere oft nicht hält, was sich ihre Befürworter von ihr versprechen, ist indessen nicht neu. Der Vietnamkrieg bietet ein Musterbeispiel dafür, wie die Hoffnung, eine statische Barriere könne eine defensive Alternative zur offensiven Kriegsführung darstellen, trog. Der Versuch, die Infiltration gegnerischer Truppen und Ausrüstung von Nordvietnam in den Süden mittels einer elektronischen Barriere aufzuhalten, endete in einem Fiasko.
Schon zu Beginn des Engagements der USA in Vietnam gab es Überlegungen, die durchlässigen Grenzen Südvietnams zum Norden wie auch zum Nachbarland Laos durch eine Barriere abzuriegeln. Erfolgreiche Beispiele existierten. So war es den Franzosen im Algerienkrieg gelungen, mit ihrer nach Verteidigungsminister André Morice benannten »Morice-Linie« die Infiltration aus Tunesien und Marokko um 90% zu verringern. Die 1957 fertiggestellte Barriere, die aus einem elektrischen Zaun sowie Minen und Stacheldraht bestand, verlief fast 500 Kilometer entlang der algerisch-tunesischen Grenze sowie über 700 Kilometer entlang der algerisch-marokkanischen Grenze. 80.000 Soldaten wurden zu ihrer Bewachung abgestellt. Boden- und luftgestützte Patrouillen sowie spezielle Jagdkommandos sorgten dafür, dass gegnerische Truppen, denen nachts der Durchbruch durch die Barriere gelungen war, sofort bekämpft wurden.
In Indochina waren die Erfahrungen allerdings weniger ermutigend. Der französische General de Lattre de Tassigny hatte 1951 den Versuch unternommen, den feindlichen Widerstand zu brechen, indem er ein Gebiet von rund 20.000 Quadratkilomatern mit rund acht Millionen Einwohnern abriegelte. Mit rund 1.200 Betonbefestigungen – der »De Lattre-Linie« – sollte der Gegner am Eindringen in das Gebiet gehindert werden. Doch den Franzosen gelang es nicht, das von ihnen abgeriegelte Gebiet vollständig unter ihre Kontrolle zu bekommen. Vor allem aber band die »De Lattre-Linie« einen Großteil der französischen Truppen: Von de Lattres 500.000 Mann waren am Ende 350.000 mit statischen oder logistischen Aufgaben betraut. Darüber hinaus hatte die »De Lattre-Linie«, so das harsche Urteil eines Militärhistorikers, »mehr Löcher als ein Schweizer Käse«.
Die Lehren für das amerikanische Militär in Vietnam schienen daher eindeutig. Zum einen hätte eine lange Barriere eine große Anzahl von Truppen gebunden, die folglich nicht mehr für andere Aufgaben hätten eingesetzt werden können. Zum anderen aber war man überzeugt, dass Luftangriffe gegen Nordvietnam das bessere Mittel seien, um seine militärischen Ziele zu erreichen. Als sich jedoch immer deutlicher herausstellte, dass selbst das massive Flächenbombardement gegen Nordvietnam und Laos die Infiltration in den Süden nicht nachweislich verringern konnte, geriet die amerikanische Militärstrategie in eine Sackgasse.
In dieser Lage kam das bis dahin skeptisch bewertete Barriere-Konzept zu neuen Ehren. Im April 1966 beauftragte das Pentagon eine Gruppe hochrangiger Wissenschaftler damit, ein solches Konzept zu erarbeiten. Die Wissenschaftler fällten ein niederschmetterndes Urteil über die amerikanische Bombenkriegsführung und empfahlen eine radikale Alternative. Entlang der entmilitarisierten Zone vom Südchinesischen Meer bis nach Laos sollte eine von Truppen bewachte Barriere errichtet werden. Sie würde zum einen aus einer Kombination aus Stacheldraht, Bunkern und Minen sowie Wachttürmen mit Suchscheinwerfern bestehen, zum anderen würden moderne seismische und akustische Sensoren dazu dienen, die Zahl der zur Überwachung der Barriere erforderlichen Soldaten durch entsprechende Frühwarnung möglichst gering zu halten. Das Konzept zur Begrenzung der Infiltration aus dem formal neutralen Nachbarland Laos sah hingegen den umfangreichen Einsatz modernster seismischer, akustischer und chemischer Sensoren vor, die Zieldaten für Luftschläge übermitteln sollten.
Der amerikanische Verteidigungsminister McNamara, der seinen Militärs mit unverhohlener Abneigung begegnete, machte sich diese Ideen schnell zu eigen. Gelänge es, die Zahl der nach Süden einsickernden feindlichen Kämpfer nachhaltig zu verringern, würde ein starkes Argument seiner Generäle für eine Ausweitung des Bombenkriegs gegen Nordvietnam hinfällig werden. Entsprechend dieser Logik begrüßten viele Kritiker des Krieges in Politik und Presse die Barriere als eine defensive Alternative zum offensiven Bombenkrieg. Die »McNamara-Linie«, wie die amerikanischen Medien das Konzept tauften, war daher weit mehr als ein anspruchsvolles technologisches Projekt: Sie war ein Politikum ersten Ranges.
Im Sommer 1967 begann man in Vietnam mit der Rodung eines etwa einen Kilometer breiten Streifens südlich der Entmilitarisierten Zone, der mit Stacheldraht, Minen, Sensoren und Wachttürmen versehen werden sollte. Dahinter wollte man Artilleriestellungen errichten, um den Streifen vollständig abdecken zu können. Im hügeligen Gelände, wo eine durchgehende Barriere nicht möglich war, sollten die wahrscheinlichsten Infiltrationswege durch Minen, Wachttürme und Artillerie sowie mobile Einheiten blockiert werden. Der Zeitplan war optimistisch: Die Fertigstellung der gesamten Anlage war bereits für den Sommer 1968 geplant.
Doch man hatte die Aufgabe sträflich unterschätzt. Die Nordvietnamesen erwiesen sich als gut vorbereitet und belegten die amerikanischen Marineinfanteristen mit massivem Artillerie- und Mörserfeuer. Damit zeigte sich, dass nicht nur Bemannung und Unterhalt der Barriere, sondern bereits ihr Aufbau weitaus schwieriger sein würde als von ihren Entwicklern vorausgesehen. Als darüber hinaus die eigentlich für die Barriere vorgesehenen Sensoren erfolgreich zur Abwehr eines Angriffs auf eine wichtige Stellung der US-Marines eingesetzt wurden, schienen sich die Zweifel der militärischen Führung nur noch weiter zu bestätigen. Die Sensoren taugten am besten für das bewegliche Gefecht, nicht für eine statische Verteidigungslinie. Im Oktober 1968 wurde der Bau des östlichen Teils der Barriere eingestellt.
Umso wichtiger wurde für McNamara nun der Erfolg des anderen Teils des Konzepts: die Eindämmung der Infiltration aus dem Nachbarland Laos. Dort hatten Nordvietnamesen und Vietcong in jahrelanger Arbeit den Ho-Chi-Minh-Pfad – ein mehrere tausend Kilometer langes Netz von Dschungelstraßen – angelegt, auf dem sich ein steter Strom von Truppen und Ausrüstungsgütern nach Südvietnam hinunterbewegte. Man schätzt heute, dass die Nordvietnamesen von 1966 bis 1971 mindestens eine halbe Million Soldaten, 100.000 Tonnen Lebensmittel, 400.000 Waffen und 50.000 Tonnen Munition nach Südvietnam schleusen konnten.
Da in Laos keine amerikanischen Bodentruppen involviert waren, schied eine Lösung wie im benachbarten Vietnam aus. Die Operation »Igloo White« setzte es sich daher zum Ziel, die Infiltration durch gezielte Luftschläge zu verringern. Hierzu sollten von Flugzeugen abgeworfene seismische und akustische Sensoren entlang des Pfades aufgestellt werden, um den Feind aufzuspüren und ihn dann aus der Luft zu bekämpfen. Hierfür entwickelte man beispielsweise Sensoren, die menschliche Gerüche wie Urin oder Schweiß erkennen und damit gut getarnte gegnerische Soldaten aufspüren sollten. Doch auch hier erwies sich die praktische Umsetzung des Konzepts als weitaus schwieriger als erhofft. Die akustischen Sensoren reagierten auf jeden Dschungellaut. Die »Sniffer-Sensoren« wiederum waren nicht immer in der Lage, zwischen menschlichem und tierischem Urin zu unterscheiden und konnten daher auch gezielt irregeführt werden. Das Ergebnis waren zahllose Fehlalarme.
Im Gegensatz zur Barriere in Vietnam, die nie fertiggestellt wurde, entwickelte sich der Anti-Infiltrationseinsatz in Laos zu einer aufwändigen und mehrere Jahre dauernden Operation. Die Schäden, die man den Nordvietnamesen durch die Luftschläge zufügte, waren hoch, doch eine nachhaltige Verringerung der Infiltration gelang nicht. Denn die meisten auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad »zerstörten« Lastwagen wurden nur beschädigt und konnten ihre Fahrt nach kurzer Reparatur fortsetzen. Angesichts des Fehlens ausgebrannter Fahrzeugwracks witzelten amerikanische Offiziere, vermutlich habe der »Große Laotische Lastwagenfresser« die in der Nacht abgeschossenen Fahrzeuge verschlungen. »Igloo White«, in deren Verlauf mehrere Millionen Tonnen Bomben auf Laos abgeworfen wurden, hatte keine kriegsentscheidende Bedeutung. Mit dem ursprünglichen Ziel ihrer Befürworter – der De-Eskalation des Konflikts – hatte die Operation ohnehin nichts mehr gemeinsam.
Obwohl sich das Drama um den Aufstieg und Fall der »McNamara-Linie« vor über 50 Jahren ereignete, hält es auch heute noch drei wichtige Lehren bereit.
Die erste Lektion besagt, dass militärische Barrieren zwar in Friedenszeiten eine abschreckende Wirkung entfalten können, sich aber nach dem Ausbruch eines Konflikts zumeist als wirkungslos erweisen. Anders formuliert, wenn eine Barriere angegriffen wird, ist sie bereits gescheitert. Genau dies geschah am 07. Oktober 2023 in Israel. Das Scheitern der Barrieren in Vietnam war allerdings noch weitaus wahrscheinlicher, denn dort hatte man versucht, die Barrieren inmitten eines Krieges zu errichten.
Die zweite Lektion besagt, dass militärische Barrieren schnell technisch obsolet werden. Aufgrund ihrer statischen und passiven Natur wird ihnen zumeist nicht dieselbe Aufmerksamkeit zuteil wie etwa Panzern oder Hubschraubern. Letztere werden ständig modernisiert, um sie an die Fähigkeiten des Gegners anzupassen. Da bei Barrieren dieser Anreiz fehlt, sind sie beim Ausbruch eines Konflikts mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf dem neuesten Stand. Die Entwickler der Barrieren-Konzepte in Vietnam waren sich dieser Tatsache bewusst und veranschlagten deshalb große Summen für die ständige Modernisierung der Anlagen. In Israel hingegen, so scheint es, war man weniger aufmerksam, weil man – wie bereits im Yom-Kippur-Krieg von 1973 – den Gegner generell unterschätzte.
Die dritte Lektion besagt, dass auch eine Hochtechnologie-Barriere umfassend überwacht werden muss, und dass sie letztlich nur in Kombination mit einem umfassenderen »Counterinsurgency«-Ansatz funktioniert. Dies waren zentrale Lehren der »Morice-Linie« und ähnlicher Konzepte – Lehren, die jedoch von den Befürwortern des Barriere-Konzepts in Vietnam (und wohl auch in Israel) ignoriert worden waren. Man überschätzte einerseits die Wirksamkeit einer statischen Barriere, während man andererseits die Entschlossenheit des Gegners unterschätzte, diese zu überwinden.
Der Preis, den man für diese Versäumnisse bezahlen musste, war hoch.

Zum Autor:
Michael Rühle
NATO-Experte a.D.
Michael Rühle war über dreißig Jahre lang im Internationalen Stab der NATO tätig, u.a. im Bereich Politische Planung und Reden, Energie- und Klimasicherheit sowie hybride Bedrohungen.
2009 erschien in der Edition Körber-Stiftung seine Publikation Gute und schlechte Atombomben. Berlin muss die nukleare Realität mitgestalten.






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