Hyper-Realismus oder Ego-Trip? Der mediale Flirt mit der deutschen Bombe
- Michael Rühle

- 13. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Mai
Die Welt befindet sich im Umbruch - inbesondere die transatlantischen Beziehungen unterliegen einer erheblichen Veränderung, was die Verlässlichkeit des US-amerikanischen »Nuklearschirms« für Europa in Zweifel zieht. Michael Rühle, NATO-Experte a.D., stellt in diesem Beitrag die Frage, wie realistisch mediale Forderungen nach einer atomaren Bewaffnung Deutschlands sind.

Teaser-Bild über die generative KI der Plus-Version von Chat GPT erstellt.
Die globale nukleare Ordnung ist eine Klassengesellschaft. Es gibt neun offizielle und inoffizielle Kernwaffenstaaten, der große Rest der Staatenwelt verfügt über solche Waffen nicht. Allerdings verlassen sich nahezu 40 Staaten in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum auf die nukleare Abschreckung. Sie alle gehen nämlich davon aus, dass die Vereinigten Staaten für ihre Sicherheit auch mit ihrem nuklearen Arsenal einstehen. Selbst wenn Kritiker nie müde wurden, die Glaubwürdigkeitsprobleme einer solchen, mit existenziellen Risiken behafteten amerikanischen Politik zu betonen und versuchten, die »erweiterte Abschreckung« der USA als Fiktion zu entlarven: Die politisch Handelnden blieben davon seit über einem halben Jahrhundert gänzlich unbeeindruckt. Selbst eine Fiktion kann manchmal realpolitisch nützlich sein. Wie der britische Doyen der Nuklearstrategie, Lawrence Freedman, einmal treffend bemerkt hat, können Nuklearwaffen eine Abschreckungswirkung entfalten, die weit über ihre logischen Begrenzungen hinausreicht.
Seit der ersten Amtszeit Donald Trumps aber ist es nach Ansicht mancher Beobachter nicht mehr möglich, Deutschlands Sicherheitspolitik auf die Annahme eines weiterhin verlässlichen amerikanischen »Nuklearschirms« zu gründen. Da ein erratischer amerikanischer Präsident die Schutzverpflichtungen gegenüber seinen Verbündeten jederzeit aufkündigen könne, benötige Deutschland einen »Plan B«, um im Fall der Fälle seinen nuklearen Schutz auf andere Weise organisieren zu können. Während Trumps erster Amtszeit forderten einige Stimmen zunächst eine deutsche Bombe, doch hat sich inzwischen eine auf Frankreich und die EU gestützte europäische Abschreckung als das bevorzugte alternative Modell zum US-zentrischen Abschreckungsverbund herauskristallisiert. Zwar sind sich viele Diskutanten der zahlreichen Schwierigkeiten eines solchen neuen Arrangements bewusst, doch erscheint es im Falle eines Verlustes der klassischen atlantischen Option noch als die vernünftigste Alternative. Sie würde den multilateralen NATO-Rahmen ersetzen, ohne jedoch das Entstehen neuer Nuklearmächte zu begünstigen.
Doch wer glaubte, damit sei eine unselige Diskussion über deutsche Nuklearwaffen vom Tisch, sieht sich getäuscht. Die deutsche nationale Option übt auf manche Analytiker offenbar eine besondere Anziehungskraft aus – eine Anziehungskraft, die jedenfalls so stark ist, dass man meint, nicht ganz von ihr lassen zu können. Über eine deutsche Bombe nachzudenken, ist für ihre Befürworter kein politischer Tabubruch mehr, sondern die logische Konsequenz aus einer schonungslosen realpolitischen Lagebeurteilung.
Die Forderung nach einer deutschen nationalen Option wird dabei nur selten in eindeutiger Weise formuliert. Sieht man einmal von dem skurrilen Vorschlag eines deutschen Experten ab, man möge doch einfach 1000 Nuklearsprengköpfe von den Amerikanern kaufen (was das sofortige Ende des Atomwaffen-Sperrvertrages zur Folge hätte), verbleiben die vielen Kommentatoren lieber im Ungefähren. Meist begnügt man sich mit dem bloßen Hinweis auf die neue Sicherheitslage, in der man nun eben »das Undenkbare denken« müsse. Die Verträge, in denen sich Deutschland zum dauerhaften Verzicht auf Massenvernichtungswaffen bekannt hat, so erfährt man, seien unter Voraussetzungen entstanden, die inzwischen entfallen wären – »rebus sic stantibus«. Der Weg zur Bombe wäre dann nur noch eine Frage der finanziellen Mittel und des technischen Knowhows – weshalb es dieses Knowhow zu bewahren gelte. Denn ebenso wie Japan und Südkorea müsse auch Deutschland, so ein Experte, »in nukleare Latenz, also die grundlegenden Fähigkeiten für ein nationales Atomwaffenprogramm, investieren – natürlich ohne, dass die politische Führung dies offensiv kommuniziert.«
Die Frage, was denn wäre, wenn Polen, Italien und andere größere europäische Länder es Deutschland gleichtäten und ebenfalls eigene Nuklearprogramme initiierten, wird kaum gestellt. Ein Experte verweist auf die Möglichkeit, dass die USA ihre Einwände gegen die militärische Nuklearisierung der Verbündeten aufgeben könnten, um sich so von den Sicherheitsverpflichtungen gegenüber diesen Staaten zu befreien. Das widerspräche zwar fast 80 Jahren amerikanischer nuklearer Ordnungspolitik, aber in der aktuellen Debatte ist scheinbar alles möglich.
Doch selbst dann, wenn Washington nichts mehr gegen eine nukleare Bewaffnung Deutschlands und anderer Staaten in Europa und Asien einzuwenden hätte, bliebe die Frage, ob es im Interesse Deutschlands wäre, einen solchen Schritt zu gehen. Die Antwort ist nicht schwer: ein deutscher Griff nach der Bombe würde ein politisches Erdbeben auslösen, dessen Folgen unabsehbar wären. Alte Ressentiments bei Deutschlands Nachbarn, die bis heute nur mühsam überdeckt werden, kämen wieder zum Vorschein, sollte sich Berlin zu einer nationalen Kernwaffenoption bekennen. Die positive Dynamik der europäischen Integration könnte sich in ihr Gegenteil verkehren, wenn Deutschland als ein Land wahrgenommen würde, das sich den Status einer Nuklearmacht aneignen wollte.
Dies würde auch für den Fall gelten, wenn Deutschland Entscheidungen treffen sollte, die den Verdacht nahelegten, man wolle zumindest die technischen Optionen für eine spätere Entwicklung von Atomwaffen offenhalten. Das Argument vom gefährlichen Russland, gegen das es sich zu wappnen gelte, würde nicht verfangen. Deutsche Nuklearwaffen, deren Entwicklung ja den Austritt aus völkerrechtlichen Verträgen erzwingt, würden bei vielen Europäern nämlich mehr Ängste auslösen als es Moskaus Nuklearwaffen gegenwärtig tun. Und obgleich sich die Einstellung der deutschen Öffentlichkeit zu Nuklearwaffen je nach politischer Großwetterlage immer wieder verändert, würde eine nukleare Bewaffnung kaum auf große Zustimmung stoßen.
Aus all diesen Gründen bleibt eine deutsche nationale nukleare Option unrealistisch. Warum aber fühlen sich manche Beobachter dennoch berufen, sie immer wieder herbeizuschreiben? Ist es das Bedürfnis, gegen den Strich zu bürsten und sich als knallharte Realisten zu inszenieren? Ist es der Nervenkitzel, über die »absolute Waffe« zu schreiben, weil einem damit ein gewisses Maß an medialer Aufmerksamkeit sicher ist? Will man damit endgültig auf Augenhöhe mit Frankreich und Großbritannien gelangen, weil man diese beiden Staaten sowohl um ihren nuklearen Status als auch um ihren ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat beneidet? Oder ist es der Versuch, Deutschland auch im nuklearen Bereich endgültig »souverän« werden zu lassen, weil man die Abhängigkeit von anderen Nuklearmächten stets als einen Makel empfunden hat, den es zu korrigieren gilt?
Was auch immer der Grund für die Forderung nach einer deutschen Bombe sein mag, keine deutsche Regierung wird ihr nachgeben. Die Vorteile einer solchen Option stünden in keinem Verhältnis zu den zu erwartenden Nachteilen. Die deutsche Bombe bleibt daher ein Ego-Trip von einigen Journalisten, Hochschulprofessoren und Think-Tankern, die sich zwar als Hyper-Realisten gebärden, letztlich aber nur vom Unrealistischen träumen.

Zum Autor:
Michael Rühle
NATO-Experte a.D.
Michael Rühle war über dreißig Jahre lang im Internationalen Stab der NATO tätig, u.a. im Bereich Politische Planung und Reden, Energie- und Klimasicherheit sowie hybride Bedrohungen.
2009 erschien in der Edition Körber-Stiftung seine Publikation Gute und schlechte Atombomben. Berlin muss die nukleare Realität mitgestalten.





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